Im Jahr 1912 – zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – veröffentlichte der deutsche General Friedrich von Bernhardi sein Buch “Unsere Zukunft. Ein Mahnwort an das deutsche Volk”. Darin sprach er von der “Stellung des Deutschtums auf der Welt” und schilderte seine Thesen über die Unvermeidbarkeit eines neuen Krieges, weil er für das Deutsche Kaiserreich mehr “Weltgeltung” einforderte:
Betrachten wir […] die Stellung des Deutschtums auf der Welt, so müssen wir uns mit blutendem Herzen gestehen, dass die politische Stellung des Deutschen Reiches in keiner Weise dem Kulturwert des deutschen Volkes und der wirtschaftlichen Bedeutung des Deutschtums im Auslande entspricht. […] Befinden wir uns also als Kontinentalmacht in einer wenig vorteilhaften Lage, so ist unsere Weltstellung in dem gleichen Grade gefährdet; ja man kann von einer wirklichen Weltgeltung des Deutschen Reiches als solcher eigentlich noch gar nicht reden. Obwohl die wirtschaftliche Bedeutung des Deutschtums auf der ganzen Erde unter dem Schutze des politischen Ansehens, das uns unsere Einigungskriege errungen hatten, eine sehr bedeutende geworden ist, können wir uns dennoch als Weltmacht nirgends zur Geltung bringen, und nur an wenigen Orten der Erde kann sich das Deutschtum frei und selbstständig entwickeln, nämlich in den wenigen Kolonien, die wir seinerzeit mit Englands Einverständnis erworben haben und auch heute noch besitzen.
Dieser Kolonialbesitz aber entspricht in keiner Weise weder unserer Bedeutung als Kulturvolk noch unseren wirtschaftlichen Bedürfnissen, noch der zahlenmäßigen Größe und Entwicklungsfähigkeit unseres Volkes. Bei der Verteilung der politischen Macht, wie sie heute besteht, kann uns noch dazu der Verkehr mit unseren überseeischen Besitzungen jeden Tag unterbunden werden, ohne dass wir uns dagegen zu wehren vermöchten. Wenn wir dagegen die Kolonialreiche Englands, Frankreichs und sogar des kleinen Belgien betrachten, erkennen wir klar, dass wir bei der Verteilung der Erde nicht ohne unsere eigene schwere Schuld zu kurz gekommen sind. […]
Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und zugleich das wirksamste, wenn auch gefährlichste Mittel der Politik. Ja man muss sogar behaupten, dass die Möglichkeit des Krieges als eines äußersten Mittels eine notwendige Voraussetzung der Politik ist. Man kann sich eine solche ohne die Möglichkeit, sich unter Umständen auf die Waffen zu berufen, überhaupt nicht denken. Es gibt zwischen Staaten, die einen friedlichen Ausgleich entgegengesetzter Interessen nicht zuwege bringen, überhaupt keinen anderen Kraftmesser als den Krieg, und allein die Vorstellung von den nachteiligen Folgen, die ein Krieg zur Folge haben würde, vermag einen Staat zu bewegen, einen Teil seiner wertvollsten Interessen zugunsten eines Gegners preiszugeben. […]
Dem Kriege muss auch in der öffentlichen Meinung seine sittliche Berechtigung und seine politische Bedeutung zurückgewonnen werden. Seine hohe Bedeutung als der mächtigste Kulturförderer muss ihrem Wert entsprechend allgemein anerkannt werden. Wir müssen einsehen, dass in einem wirklichen Kulturvolk die wirtschaftlichen und persönlichen Interessen allein niemals die entscheidenden sein dürfen; dass nicht die äußeren, sondern die sittlichen Güter die erstrebenswerten wahren Kulturgüter sind und dass Opfer bringen und Leiden erdulden im Interesse einer großen Sache den Menschen höher stellt als Genießen und gieriges Haschen nach sinnlichen Gütern dieser Welt; kurz, dass der Krieg um ideale Zwecke oder zur Selbstbehauptung eines edlen Volkes nicht als Barbarei, sondern als der höchste Ausdruck wahrer Kultur bezeichnet werden muss und als eine politische Notwendigkeit im Interesse des biologischen, sozialen und sittlichen Fortschritts. […]
In diesen Ergebnissen aber beruht die biologische Bedeutung des Krieges für die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit; denn es ist klar, dass die Kräfte, die die Überlegenheit im Kriege gewähren, nämlich vor allem die geistigen und sittlichen, wie sie nur in einem lebensstarken Volke gedeihen, zugleich die sind, die eine fortschrittliche Kulturentwicklung ermöglichen. Eben dadurch, dass sie die Elemente des Fortschritts in sich bergen, verleihen sie den Sieg, der dem lebensstarken Volke erweiterte und günstigere Lebensmöglichkeit und gesteigerten Einfluss verschafft. Ohne den Krieg aber würden nur allzuleicht minderwertige und verkommene Rassen durch Masse und Kapitalmacht die gesunden, keimkräftigen Elemente überwuchern, und ein allgemeiner Rückgang müsste die Folge sein. In der Auslese besteht die Schöpferkraft des Krieges. Indem er und er allein eine solche bewirkt, wird er zu einer biologischen Notwendigkeit, zu einem Regulator im Leben der Menschheit, der gar nicht zu entbehren ist, weil sich ohne ihn eine ungesunde, jede Förderung der Gattung und daher auch jede wirkliche Kultur ausschließende Entwicklung ergehen müsste.
zitiert nach: Friedrich von Bernhardi, Unsere Zukunft. Ein Mahnwort an das deutsche Volk, Stuttgart-Berlin 1912, S. 22ff., 54, 56, 60.