NATO-Doppelbeschluss 1979

Nach der Entspannungsphase in den 1970er Jahren kam es im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion 1979 zum erneuten Konflikt. Als Reaktion auf die sowjetische Aufrüstung antworteten die westlichen Staaten unter Führung der USA mit dem NATO-Doppelbeschluss, der die Aufstellung von Atomsprengköpfen in Westeuropa legitimierte. Noch im selben Jahr kam es zum sowjetisch-afghanischen-Krieg. Damit ging der Kalte Krieg in seine letzte heißere Phase. Folgende Punkte enthielt der NATO-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979:

1.) Die Außen- und Verteidigungsminister trafen am 12. Dezember 1979 in Brüssel zu einer Sondersitzung zusammen.

2.) Die Minister verwiesen auf das Gipfeltreffen vom Mai 1978, bei dem die Regierungen ihre politische Entschlossenheit zum Ausdruck brachten, der Herausforderung zu begegnen, die der fortdauernde intensive militärische Aufwuchs auf seiten des Warschauer Paktes für ihre Sicherheit darstellt.

3.) Im Laufe der Jahre hat der Warschauer Pakt ein großes und ständig weiterwachsendes Potential von Nuklearsystemen entwickelt, das Westeuropa unmittelbar bedroht und eine strategische Bedeutung für das Bündnis in Europa hat. Diese Lage hat sich innerhalb der letzten Jahre in besonderem Maße durch die sowjetischen Entscheidungen verschärft, Programme zur substantiellen Modernisierung und Verstärkung ihrer weitreichenden Nuklearsysteme durchzuführen. Insbesondere hat die Sowjetunion die SS 20-Rakete disloziert, die durch größere Treffgenauigkeit, Beweglichkeit und Reichweite sowie durch die Ausrüstung mit Mehrfachsprengköpfen eine bedeutende Verbesserung gegenüber früheren Systemen darstellt, und sie hat den “Backfire-Bomber” eingeführt, der wesentlich leistungsfähiger ist als andere sowjetische Flugzeuge, die bisher für kontinentalstrategische Aufgaben vorgesehen waren. Während die Sowjetunion in diesem Zeitraum ihre Überlegenheit bei den nuklearen Mittelstreckensystemen (LRTNF) sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgebaut hat, ist das entsprechende Potential des Westens auf demselben Stand geblieben. Darüber hinaus veralten diese westlichen Systeme, werden zunehmend verwundbarer und umfassen zudem keine landgestützen LRTNF-Raketensysteme.

4.) Gleichzeitig hat die Sowjetunion auch ihre Nuklearsysteme kürzerer Reichweite modernisiert und vermehrt und die Qualität ihrer konventionellen Streitkräfte insgesamt bedeutend verbessert. Diese Entwicklungen fanden vor dem Hintergrund des wachsenden Potentials der Sowjetunion im interkontinentalstrategischen Bereich und der Herstellung der Parität mit den Vereinigten Staaten auf diesem Gebiet statt.

5.) Diese Entwicklungen haben im Bündnis ernste Besorgnis hervorgerufen, da – falls sie fortdauern sollten – die sowjetische Überlegenheit bei den Mittelstreckenwaffen die bei den interkontinentalen strategischen Systemen erzielte Stabilität aushöhlen könnte. Durch diese Entwicklungen könnte auch die Glaubwürdigkeit der Abschreckungsstrategie des Bündnisses dadurch in Zweifel gezogen werden, daß die Lücke im Spektrum der dem Bündnis zur Verfügung stehenden nuklearen Reaktionen auf eine Aggression stärker akzentuiert würde.

6.) Die Minister stellten fest, daß diese jüngsten Entwicklungen konkrete Maßnahmen des Bündnisses erfordern, wenn die NATO-Strategie der flexiblen Reaktion glaubwürdig bleiben soll. Nach intensiven Beratungen auch über alternative Ansätze und deren Wert und nach Kenntnisnahme der Haltung bestimmter Bündnispartner, kamen die Minister überein, daß dem Gesamtinteresse der Allianz am besten dadurch entsprochen wird, daß die zwei parallelen und sich ergänzenden Ansätze: LRTNF-Modernisierung und -Rüstungskontrolle verfolgt werden.

7.) Die Minister haben daher beschlossen, das LRTNF-Potential der NATO durch die Dislozierung von amerikanischen bodengestützten Systemen in Europa zu modernisieren. Diese Systeme umfassen 108 Abschußvorrichtungen für Pershing II, welche die derzeitigen amerikanischen “Pershing Ia” ersetzen werden, und 464 bodengestützte Marschflugkörper (GLCM). Sämtliche Systeme sind jeweils mit nur einem Gefechtskopf ausgestattet. Alle Staaten, die zur Zeit an der integrierten Verteidigungsstruktur beteiligt sind, werden an diesem Programm teilnehmen. Die Raketen werden in ausgewählten Ländern stationiert und bestimmte Nebenkosten werden im Rahmen von bestehenden Finanzierungsvereinbarungen der NATO gemeinsam getragen werden. Das Programm wird die Bedeutung nuklearer Waffen für die NATO nicht erhöhen. In diesem Zusammenhang kamen die Minister überein, daß als integraler Bestandteil der TNF-Modernisierung so bald wie möglich 1 000 amerikanische nukleare Gefechtsköpfe aus Europa abgezogen werden. Weiterhin beschlossen die Minister, daß die 572 LRTNF-Gefechtsköpfe innerhalb dieses verminderten Bestands untergebracht werden sollen. Dies impliziert notwendigerweise eine Gewichtsverlagerung mit der Folge, daß die Zahl der Gefechtsköpfe von Trägersystemen anderer Typen und kürzerer Reichweite abnimmt. Zusätzlich haben die Minister mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß die Nukleare Planungsgruppe (NPG) eine genaue Untersuchung vornimmt über Art, Umfang und Grundlage der sich aus der LRTNF-Dislozierung ergebenden Anpassungen und ihrer möglichen Auswirkungen auf die Ausgewogenheit von Aufgaben und Systemen im gesamten nuklearen Arsenal der NATO. Diese Untersuchung wird Grundlage eines substantiellen Berichts an die Minister der NPG im Herbst 1980 sein.

8.) Die Minister messen der Rüstungskontrolle als Beitrag zu einem stabileren militärischen Kräfteverhältnis zwischen Ost und West und zur Förderung des Entspannungsprozesses eine große Bedeutung bei. Dies spiegelt sich wider in einem breit angelegten Spektrum von Initiativen, die im Bündnis geprüft werden mit dem Ziel, die Weiterentwicklung von Rüstungskontrolle und Entspannung in den achtziger Jahren zu fördern. Die Minister betrachten die Rüstungskontrolle als integralen Bestandteil der Bemühungen des Bündnisses, die unverminderte Sicherheit seiner Mitgliedstaaten zu gewährleisten und die strategische Lage zwischen Ost und West auf einem beiderseits niedrigeren Rüstungsniveau stabiler, vorhersehbarer und beherrschbarer zu gestalten. In dieser Hinsicht begrüßen sie den Beitrag, den der SALT II-Vertrag zur Erreichung dieser Ziele leistet.

9.) Die Minister sind der Auffassung, daß auf der Grundlage des mit SALT II erreichten und unter Berücksichtigung der die NATO beunruhigenden Vergrößerung des sowjetischen LRTNF-Potentials nun auch bestimmte amerikanische und sowjetische LRTNF in die Bemühungen einbezogen werden sollten, durch Rüstungskontrolle ein stabileres umfassendes Gleichgewicht bei geringeren Beständen an Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu erzielen. Dies würde frühere westliche Vorschläge und die erst kürzlich geäußerte Bereitschaft des sowjetischen Staatspräsidenten Breschnew aufnehmen, solche sowjetischen und amerikanischen Systeme in Rüstungskontrollverhandlungen einzubeziehen. Die Minister unterstützen voll die als Ergebnis von Beratungen im Bündnis getroffene Entscheidung der Vereinigten Staaten, über Begrenzungen der LRTNF zu verhandeln und der Sowjetunion vorzuschlagen, so bald wie möglich Verhandlungen auf der Grundlage der folgenden Leitlinien aufzunehmen, die das Ergebnis intensiver Konsultationen innerhalb des Bündnisses sind:

a) Jede künftige Begrenzung amerikanischer Systeme, die in erster Linie für den Einsatz als TNF bestimmt sind, soll von einer entsprechenden Begrenzung sowjetischer TNF begleitet sein.
b) Über Begrenzungen von amerikanischen und sowjetischen LRTNF soll Schritt für Schritt bilateral im Rahmen von SALT III verhandelt werden.
c) Das unmittelbare Ziel dieser Verhandlungen soll die Vereinbarung von Begrenzungen für amerikanische und sowjetische landgestützte LRTNF-Raketensysteme sein.
d) Jede vereinbarte Begrenzung dieser Systeme muß mit dem Grundsatz der Gleichheit zwischen beiden Seiten vereinbar sein. Die Begrenzungen sollen daher in einer Form vereinbart werden, die de jure Gleichheit sowohl für die Obergrenzen als auch für die daraus resultierenden Rechte festlegt.
e) Jede vereinbarte Begrenzung muß angemessen verifizierbar sein.

10.) Angesichts der besonderen Bedeutung dieser Verhandlungen für die Sicherheit des Bündnisses insgesamt wird zur Unterstützung der amerikanischen Verhandlungsbemühungen ein besonderes, hochrangiges Konsultationsgremium innerhalb des Bündnisses gebildet. Dieses Gremium wird die Verhandlungen kontinuierlich begleiten und den Außen- und Verteidigungsministern berichten. Die Minister werden die Entwicklung dieser und anderer Rüstungskontrollverhandlungen bei ihren halbjährlichen Konferenzen bewerten.

11.) Die Minister haben sich zu diesen beiden parallel laufenden und komplementären Vorgehensweisen entschlossen, um einen durch den sowjetischen TNF-Aufwuchs verursachten Rüstungswettlauf in Europa abzuwenden, dabei jedoch die Funktionsfähigkeit der Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie der NATO weiterhin zu erhalten und damit die Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten weiterhin zu gewährleisten.

a) Ein Modernisierungsbeschluß einschließlich einer verbindlichen Festlegung auf Dislozierungen, ist erforderlich, um den Abschreckungs- und Verteidigungsbedürfnissen der NATO gerecht zu werden, um in glaubwürdiger Weise auf die einseitigen TNF-Dislozierungen der Sowjetunion zu reagieren und um das Fundament für ernsthafte Verhandlungen über TNF zu schaffen.
b) Erfolgreiche Rüstungskontrolle, die den sowjetischen Aufwuchs begrenzt, kann die Sicherheit des Bündnisses stärken, den Umfang des TNF-Bedarfs der NATO beeinflussen und im Einklang mit der grundlegenden NATO-Politik von Abschreckung, Verteidigung und Entspannung – wie sie im Harmel-Bericht niedergelegt wurde – Stabilität und Entspannung in Europa fördern. Der TNF-Bedarf der NATO wird im Licht konkreter Verhandlungsergebnisse geprüft werden.

Zitiert nach: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 18.12.1979, Nr. 154, S. 1409-1410.

Fabio Schwabe

Der Autor

Dieser Beitrag wurde am 11.03.2016 verfasst von Fabio Schwabe, Mettmann. Die aktuelle Version stammt vom 11.03.2016. Fabio Schwabe ist Gymnasiallehrer der Fachrichtung Geschichte und Gründer von Geschichte kompakt

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