Chruschtschows Rede auf der Genfer Konferenz

Im Anschluss an die Genfer Gipfelkonferenz am 26. Juli 1955 hielt der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow eine Rede, in der er seine Ansichten über die deutsch-deutsche Teilung erläuterte. Er warf den Westmächten eine Militarisierung Deutschlands und Bedrohung des Weltfriedens vor. Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion verband sich somit unmittelbar mit der Deutschen Frage:

.[…] Auf welchem Wege kann die deutsche Frage gelöst werden? Es gibt zwei Wege. Ein Weg, den die Westmächte vorschlugen, ist der Weg der Militarisierung Deutschlands; aber das führt zur Wiederherstellung der deutschen Soldateska. Es versteht sich, daß dieser Weg voller gefährlicher Folgen für die Völker Europas und insbesondere für das deutsche Volk selbst ist, da ein militarisiertes Deutschland in neue Kriegsabenteuer einbezogen werden kann und damit zum Schlachtfeld eines noch verheerenderen Krieges, zum Ausgangspunkt schwerer Leiden für alle Völker Europas und nicht nur Europas werden kann.

Aber es gibt noch einen anderen, den richtigen Weg zur Lösung der deutschen Frage, den die Regierung der Sowjetunion vertreten hat und vertritt. Das ist der Weg der Wiedervereinigung Deutschlands als eines einheitlichen, friedliebenden und demokratischen Staates, der für die anderen Völker keine Bedrohung wäre, sondern zusammen mit den anderen europäischen Staaten seinen Beitrag zur Gewährleistung der kollektiven Sicherheit in Europa leisten und sein friedliches und freies Leben aufbauen würde. Die Sowjetregierung war und bleibt Anhänger der Vereinigung Deutschlands entsprechend den Interessen des deutschen Volkes, den Interessen der Sicherheit in Europa. […]

Wir haben in Genf aufrichtig erklärt, daß unter den Bedingungen, daß auf dem Gebiet Deutschlands zwei Staaten mit verschiedener gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung entstanden sind, daß Westdeutschland Teilnehmer des Nordatlantikpaktes und der westeuropäischen Union ist, die Lösung des deutschen Problems eine schwierige Angelegenheit ist. Für seine Lösung unter den gegenwärtigen Bedingungen sind große und ernsthafte Anstrengungen sowohl seitens der Großmächte als auch insbesondere seitens des deutschen Volkes in beiden Teilen Deutschlands selbst erforderlich. Das beste aber wäre, wenn die deutsche Frage die Deutschen selbst lösen würden, die zweifelsohne den richtigen Weg für die Entwicklung Deutschlands wählen können.

Man kann nicht umhin zu berücksichtigen, daß jetzt in Europa neue Verhältnisse entstanden sind und daß wir auf der Suche nach Wegen zur Vereinigung Deutschlands diese Verhältnisse in Rechnung stellen müssen. Ist denn nicht klar, daß die mechanische Vereinigung beider Teile Deutschlands, die sich in verschiedenen Richtungen entwickeln, eine unreale Sache ist? In der entstandenen Situation ist der einzige Weg zur Vereinigung Deutschlands die Schaffung eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa, die Festigung und Entwicklung wirtschaftlicher und politischer Kontakte zwischen beiden Teilen Deutschlands. […]

Große Bedeutung für die Vereinigung Deutschlands kann die Annäherung zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Deutschen Bundesrepublik haben. Diese beiden Staaten könnten im Interesse des ganzen deutschen Volkes eine umfassende Zusammenarbeit auf allen Gebieten des innerdeutschen Lebens herstellen, das zweifelsohne die Lösung der Aufgabe der Wiedervereinigung Deutschlands erleichtern würde.

Genossen! Die Sowjetregierung wird auch künftig beharrlich und konsequent eine Politik vertreten, die auf die Vereinigung Deutschlands im Interesse des deutschen Volkes selbst gerichtet ist. Die Sowjetregierung wird dazu beitragen, daß das große deutsche Volk einen einheitlichen, demokratischen und souveränen Staat schaffen kann, der in der Familie der friedliebenden Völker einen würdigen Platz einnimmt. […] Wie Ihnen bekannt ist, möchte die Sowjetunion normale diplomatische, Handels- und kulturelle Beziehungen mit der Deutschen Bundesrepublik herstellen. Die Herstellung solcher Beziehungen würde die Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und Westdeutschland schaffen und wäre somit ein wichtiger Beitrag zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. […]

Zitiert nach: Dokumente Deutschlandpolitik III, Bd. 1, S. 227 ff., in: Was ist des deutschen Vaterland? Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800-1990, hrsg. v. Peter Longerich, München 1990, S. 201 ff.

Fabio Schwabe

Der Autor

Dieser Beitrag wurde am 17.01.2018 verfasst von Fabio Schwabe, Mettmann. Die aktuelle Version stammt vom 17.01.2018. Fabio Schwabe ist Gymnasiallehrer der Fachrichtung Geschichte und Gründer von Geschichte kompakt

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