Die Geschichte des deutschen Sozialstaates ist unmittelbar mit der Person Otto von Bismarcks verbunden. Als damaliger Reichskanzler im Kaiserreich sah er sich angesichts der erstarkenden Arbeiterbewegung zu innenpolitischen Reformen gezwungen. Die in den Fabriken eingesetzten Arbeiter forderten höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und den Achtstundentag.
Um die politischen Aktivitäten der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien einzuschränken, setzte sich Bismarck im Jahr 1878 für das Sozialistengesetz ein. Gleichzeitig erkannte er, dass das zunehmende Massenelend der Arbeiterschaft die bestehende Gesellschaftsordnung gefährde. Aufgrund dessen entschied sich Bismarck für eine umfassende Sozialgesetzgebung, die die Arbeiter enger an den Staat binden und von politischen Parteien fernhalten sollte.
Den Beginn dieser Sozialgesetzgebung markierte die am 15. Juni 1883 vom Reichstag verabschiedete Krankenversicherung. Dadurch wurden Arbeiter versicherungspflichtig, die nicht mehr als 2000 Mark jährlich verdienten. Die Krankenversicherung konnte zwar das materielle Existenzminimum einer Familie nur geringfügig absichern. Trotzdem wurde nun auch den gesetzlich versicherten Arbeitern ein Arztbesuch ermöglicht.
Am 6. Juli 1884 folgte die Unfallversicherung, die die Kosten für die gesundheitliche Heilung deckte und einen Teil des Arbeitslohnes im Falle einer gänzlichen Erwerbslosigkeit erstattete. Im Todesfall wurden dadurch auch die Hinterbliebenen eines Familienmitglieds finanziell unterstützt. Die Alters- und Invalidenversicherung wurde am 24. Mai 1889 im Reichstag verabschiedet.
Durch die staatliche Sozialgesetzgebung entsprach Bismarck den minimalen Bedürfnissen der Arbeiterschaft. Sie ging vielen Aktivisten aber nicht weit genug, da sie weiter bessere Arbeitsbedingungen in den Fabriken, höhere Löhne und den Achtstundentag befürworteten. Vor diesem Hintergrund sollten Bismarck und sein politisches Wirken in einer problemorientierten Geschichtsstunde näher untersucht werden. Einerseits setzte er sozialpolitische Reformen um, die die Existenz der Lohnarbeiter teilweise absicherten. Andererseits waren politische Aktivitäten der Arbeiterparteien weiter verboten und wurden rigoros unterdrückt. Diese ambivalente Sichtweise auf Bismarck erfordert eine kritische Auseinandersetzung, die mithilfe multiperspektivischer Quellen und kontroverser Darstellungen erfolgen und die Lernenden zur Anbahnung eines begründeten Sach- und Werturteils – “Bismarck – Reformer oder Unterdrücker?” – verleiten soll.