Nach der deutschen Reichsgründung 1871 entwickelte sich Deutschland durch den wirtschaftlichen Aufschwung vom Agrar- zum Industriestaat. In der Gesellschaft gab es indes immer größere Unterschiede der Besitzverhältnisse. Das Bürgertum hatte von der Hochkonjunktur deutlich profitieren können. Auf der anderen Seite stand die Arbeiterschaft, deren soziale Lage sich deutlich verschlechtert hatte. Daher gründeten ihre Anhänger Arbeitervereine und machten sich politisch aktiv. Deren Aktivitäten sah Reichskanzler Otto von Bismarck als große Gefahr für die Monarchie und versuchte sie möglichst zu unterdrücken. Dazu zählte auch seine Sozialgesetzgebung in den 1880er Jahren.
Soziale Frage
Die Industrielle Revolution hatte die deutsche Gesellschaft im 19. Jahrhundert gespalten. Die Arbeiterschaft wurde vom bürgerlichen Unternehmertum mit niedrigen Löhnen ausgebeutet und lebte in ärmlichen Verhältnissen. Es entwickelte sich eine öffentliche Debatte um die Soziale Frage. Arbeiter schlossen sich zunehmend in Vereinen zusammen und wollten ihre sozialen Forderungen politisch durchsetzen. 1875 entstand mit der Sozialistischen Arbeiterpartei eine erste große Massenpartei des Proletariats. Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 erhielt diese Bewegung immer mehr Zulauf. Reichskanzler Otto von Bismarck war ein streng konservativer Politiker und versuchte die Arbeiterbewegung mit allen Mitteln zu unterdrücken. Das Kaisereich war ein Obrigkeitsstaat und sah keine demokratischen Verhältnisse vor. Er nahm zwei gescheiterte Attentatsversuche auf Kaiser Wilhelm I. zum Anlass, die Aktivitäten der Sozialdemokraten stark einzuschränken. Dies fixierte er mit dem 1878 verabschiedeten Sozialistengesetz.1
Sozialgesetzgebung
Da die Arbeiterbewegung inzwischen zu einer bedeutenden politischen Größe angewachsen war, übernahm Bismarck die Forderungen der Arbeiter in Eigenregie. Er wollte deren politischen Aktivitäten einerseits unterdrücken, andererseits aber auch staatliche Sozialgesetze einführen, um sie möglichst im Zaun halten zu können. Diese Politik wird auch als “Zuckerbrot und Peitsche” bezeichnet. Dazu sah er sich insbesondere nach den Reichstagswahlen 1881 gezwungen, als die konservativen Parteien starke Verluste hinnehmen mussten. Zum ersten Programmpunkt seiner Sozialgesetzgebung zählte die 1883 eingeführte Krankenversicherung. Ein Jahr später erfolgte die Unfallversicherung. 1889 wurde auf Beschluss des Reichstags auch die Invaliditäts- und Altersversicherung verabschiedet. 1891 kam schließlich noch die Rentenversicherung dazu. Diese Maßnahmen führte Bismarck gegen den Widerstand des liberalen Unternehmertums durch, weil diese dadurch die freie Wirtschaft gefährdet sahen und finanzielle Verluste befürchteten.2
Folgen
Mit der Sozialgesetzgebung schuf Bismarck die Grundlage für die Entwicklung des Wohlfahrts– und Sozialstaates. Sein eigentliches Ziel, die Arbeiterschaft von politischen Aktivitäten fernzuhalten, verfehlte er aber. Viele Arbeiter betrachteten sein Vorgehen als Ablenkungsmanöver. Dies lag darin begründet, dass die staatlichen Sozialleistungen für die Arbeiter nur minimal ausfielen, während Angestellte oder Beamte deutlich mehr profitieren konnten. Obwohl das Volkseinkommen in den Folgejahren stark anstieg, vergrößerten sich die Reallöhne nur gering. Damit wurden die gesellschaftlichen Unterschiede also nicht behoben, sondern weiter ausgeweitet. Nachdem Bismarck 1890 von Wilhelm II. als Reichskanzler entlassen und das Sozialistengesetz aufgehoben worden war, entwickelte sich die Arbeiterbewegung zu einer immer bedeutenderen politischen Größe im Kaiserreich.3
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