Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 wird auch als “Reichsgründung von oben” bezeichnet. Damit ist gemeint, dass die Vereinigung zu einem Nationalstaat nicht durch das Volk, sondern durch Fürsten und Militärführer bewerkstelligt wurde. Der obrigkeitsstaatliche Charakter des Kaiserreichs machte sich auch in der Verfassung bemerkbar. Auf die Politik hatte das Volk weiterhin nur geringen Einfluss.
Die gescheiterte Revolution 1848/49
In der Revolution 1848/49 scheiterte der Versuch, eine vom Volk initiierte Nationalstaatsgründung mit Verfassung herbeizuführen. Deutschland blieb nach wie vor als Staatenbund [Deutscher Bund] in verschiedene Fürstentümer geteilt. Die Forderungen nach nationaler Einheit und Freiheitsrechten blieben aber weiterhin bestehen. Es wurde jedoch offensichtlich, dass die Gründung eines deutschen Nationalstaates eine schwierige Aufgabe war, die nicht allein durch das Volk gelöst werden konnte.1
Deutsche Einigungskriege
Zu Beginn der 1860er Jahre gewann die Deutsche Frage wieder an Bedeutung. In Preußen wurde Otto von Bismarck 1862 zum neuen Ministerpräsidenten ernannt. Im sogenannten Heereskonflikt ließ er gegen den Willen des Parlaments eine Aufstockung des Militärs durchführen. Zwischen 1864 und 1871 erfolgten drei Einigungskriege, in denen Preußen die Gründung eines deutschen Einheitsstaates vorantrieb. Preußen schaltete Österreich als konkurrierende Großmacht in Deutschland aus und gründete mit den nördlichen Staaten 1867 den Norddeutschen Bund. Nach dem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg 1871 erfolgte schließlich die Reichsgründung. Deutschland war nun – unter preußischer Vormacht – ein geeinter Nationalstaat.2
Reichsgründung 1871
Als am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde, waren ausschließlich Fürsten und Militärführer anwesend. Dies macht deutlich, dass der Wunsch nach nationaler Einheit durch die preußisch geführten Kriege erfüllt worden war. Dementsprechend sah auch die Verfassung von 1871 aus: Die wichtigsten Kompetenzen lagen beim Kaiser und Reichskanzler. Sie waren dem vom Volk gewählten Reichstag nicht verantwortlich. Vor allem Bismarck als Wegbereiter der deutschen Einigung kam eine wichtige Stellung zu. In der Gesellschaft genossen Adel und Militär weiterhin ein hohes Ansehen. Die Reichsgründung von 1871 war vor diesem Hintergrund ein von den Eliten vollbrachter Akt. Die politischen Mitspracherechte des Volks beschränkten sich auf den Reichstag. Auch ein allgemein verfasster Katalog von Freiheits- und Grundrechten fehlte.3