Am 19. Oktober 1878 stimmte eine Mehrheit des Reichstags dem sogenannten “Sozialistengesetz” zu. Dieses verbot sozialistische Vereine und Versammlungen und stellte deren Presse unter eine Zensur. Am 7. September 1878 hielt Albert Hänel, ein Staatsrechtler und Reichstagsabgeordneter der liberalen Fortschrittspartei, eine Rede, in der er an der Rechtsgültigkeit des Gesetzes zweifelte:
Meine Herren. ich kann nicht sagen, daß die Debatten des gestrigen Tages zur Aufklärung der Sache, die wir hier behandeln, wesentlich beigetragen haben. Ich muß im Gegenteil behaupten, daß, wenn ich diese Verhandlungen vergleiche mit denjenigen Verhandlungen, die der Reichstag in diesem Frühjahr führte, alsdann die Kernpunkte der Sache, die uns beschäftigt, wesentlich verdunkelt worden sind, in einer solchen Weise in den Hintergrund getreten sind, daß man fast an eine Absichtlichkeit in dieser Beziehung glauben möchte. […]
Meine Herren, die Hauptfrage, die nicht zu umgehen ist und die bereinigt werden muß, das ist die Frage: wollen wir gegenüber jener agitatorischen Bewegung, die insbesondere von Seiten der Sozialdemokratie ausgeht, uns nach Mitteln umsehen auf dem Boden des gemeinsamen Rechts, oder wollen wir diese Mittel suchen auf der Grundlage, die dieser Gesetzentwurf uns bietet? Es waren ausgezeichnete Redner der liberalen Partei, welche in diesem Frühjahr den Boden des gemeinen Rechts verfochten, welche auf das entschiedenste betonten, daß sie von diesem Boden nicht eher abweichen könnten, als bis ihnen der sonnenklare Nachweis geführt sei, daß das bestehende Recht nicht ausreichend und eine Verbesserung dieses gemeinen Rechts nicht abhängig sei.
Wo ist der Beweis, daß diese Voraussetzung zugetroffen hat? Etwa in den Motiven dieses Gesetzentwurfs? Sie sind hoch gelobt worden von demjenigen, der für sie verantwortlich ist, aber wo ist auch nur der Versuch jenes Nachweises, der damals im Frühjahr von der Majorität dieses Reichstags gefordert wurde? Wir haben nicht einmal eine Zusammenstellung bekommen über das geltende Recht, wir haben nirgends eine sachliche Kritik dafür empfangen, daß nach Maßgabe des geltenden Rechts und nach Maßgabe der Verbesserungsfähigkeit, die in ihm liegt, in anderer Weise, in der von der Majorität des früheren Reichstags geforderten Weise, der letzte Zweck dieses Gesetzes nicht erreicht werden könnte. Nun, meine Herren, wenn man sich dieses Nachweises enthoben glaubt, was sind die bewegenden Ursachen dazu? was liegt denn vor, um irgend jemanden, der im Frühjahr einen anderen Standpunkt einnahm, heute zu bewegen, auf den Standpunkt dieses Gesetzes zu treten? was liegt vor, so frage ich? […]
Ich sage, dieses Gesetz ist ein Parteigesetz, aber mehr noch als dieses, meine Herren, es ist noch schlimmer. Dieses Gesetz ist ein Tendenzgesetz, d. h. es tastet die konstituierenden Momente unserer religiösen und politischen Glaubensfreiheit an. Freilich gibt es eine Anschauung, welche sagt, Glaubensfreiheit könne bestehen, ohne die gleichzeitige Freiheit, für das Glaubensbekenntnis öffentlich einzutreten, öffentlich zu werben und zu gewinnen. Das sind absolutistische Traditionen, von denen ich hoffe, daß ich sie irgend welcher liberalen Partei gegenüber nicht zu widerlegen habe. Man sagt, dieser Gesetzentwurf sei nichts anderes, als daß man dasjenige vor der Eruption tue, was andere Staaten nach dem Ausbruch, nach der Katastrophe getan haben. Herrn Bamberger gegenüber wundere ich mich, daß er dieses Wort gebraucht hat. Gewiß ist es geistreich formuliert. Aber eins, glaube ich, wird er mir zugestehen: es ist die nämliche Parole, mit der jederzeit die Glaubens-, Preß-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von absolutistischen Parteien bekämpft worden ist.
Auszüge zitiert nach: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags 1878, 4. Legislaturperiode 1878, Bd. 1, Berlin 1878, S. 59f.