Nach der gescheiterten Revolution 1848 nahmen die deutschen Fürsten ihre versprochenen Reformen wieder zurück. In Preußen löste König Friedrich Wilhelm IV. die Nationalversammlung auf, lehnte die angebotene Kaiserkrone ab und erließ eine oktroyierte (einseitig vom Staatsoberhaupt beschlossene) Verfassung, die am 31. Januar 1850 in Kraft trat:
Art. 62: Die gesetzgebende Gewalt wird gemeinschaftlich durch den König und durch zwei Kammern ausgeübt. Die Übereinstimmung des Königs und beider Kammern ist zu jedem Gesetze erforderlich. […]
Art. 63: Nur in dem Falle, wenn die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen Nothstandes es dringend erfordert, können, insofern die Kammern nicht versammelt sind, unter Verantwortlichkeit des gesamten Staats-Ministeriums, Verordnungen, die der Verfassung nicht zuwiderlaufen, mit Gesetzeskraft erlassen werden. […]
Art. 64: Dem Könige, so wie jeder Kammer, steht das recht zu, Gesetze vorzuschlagen. Gesetzesvorschläge, welche durch eine der Kammern oder den König verworfen worden sind, können in derselben Sitzungsperiode nicht wieder vorgebracht werden.
Art. 65: Die erste Kammer besteht a) aus dem großjährigen königlichen Prinzen; b) aus den Häuptern der ehemals unmittelbaren reichsständischen Häuser in Preußen – und aus den Häuptern derjenigen Familien, welchen durch Königliche Verordnung das nach der Erstgeburt und Linealfolge zu vererbende Recht auf Sitz und Stimme in der ersten Kammer beigelegt wird. […] c) aus solchen Mitgliedern, welche der König auf Lebenszeit ernennt. Ihre Zahl darf den zehnten Teil der zu a) und b) genannten Mitglieder nicht übersteigen; d) aus neunzig Mitgliedern, welche in Wahlbezirken, die das Gesetz feststellt, durch die dreißigfache Zahl derjenigen Urwähler (Art. 70), welche die höchsten direkten Staatssteuern bezahlen, durch direkte Wahl nach Maßgabe des Gesetzes gewählt werden; e) aus dreißig nach Maßgabe des Gesetzes von den Gemeinderäthen gewählten Mitgliedern aus den größeren Städten des Landes. […]
Art. 69: Die zweite Kammer besteht aus 350 Mitgliedern. Die Wahlbezirke werden durch das Gesetz festgestellt.
Art. 70: Jeder Preuße, welcher das fünf und zwanzigste Lebensjahr vollendet hat und in der Gemeinde, in welcher er seinen Wohnsitz hat, die Befähigung zu den Gemeindewahlen besitzt, ist stimmberechtigter Urwähler. […]
Art. 71: Auf jede Vollzahl von zweihundert und fünfzig Seelen der Bevölkerung ist ein Wahlmann zu wählen. Die Urwähler werden nach Maaßgabe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staatssteuern in drei Abtheilungen eingetheilt, und zwar in der Art, daß auf jede Abteilung ein Drittheil der Gesamtsumme der Steuerbeträge aller Urwähler fällt. Die zweite Abtheilung besteht aus denjenigen Urwählern, auf welche die nächst niedrigeren Steuerbeträge bis zur Grenze des zweifachen Drittheils fallen. Die dritte Abtheilung besteht aus den am niedrigsten besteuerten Urwählern, auf welche das dritte Drittheil fällt. […]
Art. 72: Die Abgeordneten werden durch die Wahlmänner gewählt.
Art. 73: Die Legislaturperiode der zweiten Kammer wird auf drei Jahre festgesetzt.
Art. 74: Zum Abgeordneten der zweiten Kammer ist jeder Preuße wählbar, der das dreißigste Lebensjahr vollendet, den Vollbesitz der bürgerlichen Rechte in Folge rechtskräftigen richterlichen Erkenntnisses nicht verloren und bereits drei Jahre dem preußischen Staatsverbande angehört hat. […]
Art. 83: Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Überzeugung und sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.
Art. 84: Kein Mitglied einer Kammer kann ohne deren Genehmigung während einer Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden, außer wenn es bei der Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages nach derselben ergriffen wird. […]
Auszüge zitiert nach: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 398 f.