Friedrich Julius Stahl: “Was ist die Revolution?”

Der Politiker und Jurist Friedrich Julius Stahl gehört zu den berühmtesten konservativen Staatstheoretikern seiner Zeit. Am 8. März 1852 hielt dieser auf einer Veranstaltung des “Evangelischen Vereins für kirchliche Zwecke” eine politische Rede, in der er die Grundsätze der Französischen Revolution und Revolution 1848/49 ablehnte und die traditionelle Ordnung des monarchischen Prinzips – beruhend auf dem “Gottesgnadentum” und der “Ständegesellschaft” – rechtfertigte: 

Hochgeehrte Versammlung!

Der evangelische Verein hat uns — die wir nicht Theologen sind — die schwierige Aufgabe gesetzt, daß wir durch den Vortrag einer Stunde in den christlichen Mittelpunkt je einer jeglichen Wissenschaft einführen sollen. Ich glaube dieser Aufgabe noch am ehesten entsprechen zu können, wenn ich zum Gegenstande dieses Vortrages die Frage nehme:

„Was ist die Revolution?”

Denn wo die Revolution ist, da ist auch das christliche Zeugniß wider die Revolution. Dieses Zeugniß ist in Preußen abgelegt worden seit dem März 1848 von den Kanzeln der gläubigen Prediger, in den Zeitschriften des kirchlichen Glaubens, auf dem Kirchentage zu Wittenberg 1848, in den Kammern zu Berlin und Erfurt. Es ist das christliche Programm: „mit der Revolution zu brechen!” Auch unsere Regierung hat sich feierlich zu diesem Programm bekannt. Es ist deshalb gewiß ein Interesse der Gegenwart und ist vorzugsweise geeignet, in das Centrum der christlichen Stellung zur Politik einzuführen, daß man klar stelle:

„Was ist die Revolution, was heißt das: mit der Revolution brechen?”

Bedeutet Revolution die Selbsthülfe und Gewaltthat des Volkes gegen seine Obrigkeit? Ist sie dasselbe mit Empörung? — Keineswegs! Die Revolution ist nicht ein einmaliger Akt; sie ist ein fortdauernder Zustand, eine neue Ordnung der Dinge. Empörung, Vertreibung der Dynastie, Umsturz der Verfassung hat es zu allen Zeiten gegeben. Die Revolution aber ist die eigenthümliche weltgeschichtliche Signatur unseres Zeitalters. Oder bedeutet Revolution die politische Freiheit und die Einrichtungen für politische Freiheit? — Muß man, um nicht der Revolution zu huldigen, ein Anhänger der absoluten Monarchie, oder der regellosen Polizeigewalt, oder der Unwandelbarkeit der alten Rechtsformen sein? Ist es Revolution, eine engere Verbindung der Deutschen Staaten zu wollen, oder einen Schutz der Schleswiger gegen die Dänisirung? Ist es Revolution, dem Willen des Königs oder seiner Minister zu widerstehen? — Das Alles sei ferne! Politische Freiheit, Einheit und Macht Deutscher Nation sind Gottes Ordnung gemäße Ziele. Loyaler Widerstand gegen die Obrigkeit hat Gottes Gebot für sich. Thomas Morus, der dem Könige von England die Anerkennung seines angemaßten kirchlichen Supremats versagte, war kein Revolutionär. Selbst Johannes der Täufer war kein Revolutionär.

Wenn denn nun Revolution nicht dasselbe ist mit Empörung, und nicht dasselbe mit politischer Freiheit, was ist denn die Revolution?

Revolution bedeutet die bestimmte politische Lehre, welche seit 1789 als eine weltbewegende Macht die Denkart der Völker erfüllt und die Einrichtungen des öffentlichen Lebens bestimmt. Fragt man aber nach ihrem Begriff und Wesen, so ist es dies: Revolution ist die Gründung des ganzen öffentlichen Zustandes auf den Willen des Menschen statt auf Gottes Ordnung und Fügung: daß alle Obrigkeit und Gewalt nicht von Gott sei, sondern von den Menschen, vom Volke; und daß der ganze gesellschaftliche Zustand zu seinem Ziele nicht die Handhabung der heiligen Gebote Gottes und die Erfüllung seines Weltplanes habe, sondern allein die Befriedigung und das willkürliche Gebahren der Menschen. Dies ist das innerste Centrum, aus welchem sich das ganze System der Revolution heraus entfaltet. Es ist der Schlüssel zum Verständniß aller ihrer Forderungen. Gestatten Sie mir zuerst diese Forderungen aufzuführen und dann sie zu kommentiren: Die Revolution fordert die Volkssouverainetät, sei es die demokratische Republik, sei es die Monarchie, in welcher der König Knecht des Parlaments, das Parlament Knecht der öffentlichen Meinung oder der Volksmasse ist. Die Revolution fordert die Freiheit, das Gewährenlassen in allen Gebieten, unbegränzte Theilbarkeit und Veräußerlichkeit des Grundeigenthums, unbeschränkte Ansässigmachung und Gewerbefreiheit, unbegränzte Freiheit der öffentlichen Lehre, der Sektenstiftung, der Ehescheidung. Sie fordert Abschaffung der Todesstrafe, Straflosigkeit der Gotteslästerung, ehrenvolles Begräbniß des Selbstmörders.

Die Revolution fordert die Gleichheit: Aufhebung aller Stände und Klassen und Korporationen, aller gegebenen Obrigkeiten, Nivellirung der Gesellschaft. Die Revolution fordert die Trennung von Staat und Kirche: gleiches Recht aller Religionsbekenner auf die obrigkeitlichen Aemter, Gleichstellung aller Kulte, Behandlung der christlichen Kirche als bloßer Privatgesellschaft ohne Interesse und Bedeutung für Nation und Staat, Einführung der natürlichen Religion statt des Christenthums in der Volksschule und dem öffentlichen Unterrichte. Die Revolution fordert die Charte, d. h. die Vernichtung der ganzen naturwüchsigen, geschichtlichen Verfassung des Landes, wie sie durch Jahrhunderte sich gebildet durch Herkommen und einzelne Gesetze, um eine neue zu machen in Einem Akte, in Einer Urkunde, so daß kein Recht mehr gilt, als das in dieser Urkunde steht, und weil es in ihr steht. […]

Ich wiederhole jetzt meine Begriffsbestimmung der Revolution, und ich glaube sie hat sich als bestätigt erwiesen: Revolution ist die Gründung des ganzen öffentlichen Zustandes auf den Willen des Menschen statt auf Gottes Ordnung und Fügung. Die Revolution ist darum, wie schon das Wort sagt, Umwälzung; sie besteht darin, das zu oberst zu setzen, was nach ewigen Gesetzen zu unterst sein soll und umgekehrt. Sie macht den Menschen zum Ursprung und Mittelpunkt der sittlichen Weltordnung; sie macht die Unterthanen zu Herren ihrer Obrigkeit; sie verkündet die Menschenrechte ohne die Pflichten und den Beruf der Menschen; sie läßt den ganzen Sündenschlamm der Volksleidenschaft, den die obrigkeitliche Macht in der Tiefe niederhalten soll, emporsteigen zur Höhe der Gewalt. — Das ist die Revolution. […]

Die Revolution ist deshalb die äußerste Sünde auf dem politischen Gebiete. Nehme man andere, auch noch so schwere Verschuldungen, Usurpation, Tyrannei, Unterdrückung der Gewissen, — so sind das Uebertretungen von Gottes Ordnung. Aber sie sind doch nicht die grundsätzliche Aufhebung von Gottes Ordnung, nicht der Trotz gegen das Ansehen von Gottes Ordnung, um das Ansehen menschlicher Ordnung an ihre Stelle zu setzen. Darum, bei gleichem Grade ist immer die Sünde auf Seite der Revolution schwärzer, als auf der andern. Die Pariser Bluthochzeit war ein bis dahin unerhörter Gräuel. Vielleicht hat jene himmelschreiende Missethat die Revolution als Verhängniß heraufbeschworen; vielleicht fiel das unschuldige Haupt Ludwigs XVI. als Sühne für die Blutschuld Carls IX. Aber selbst die Sünde der Bluthochzeit verblaßt gegen jenes systematisch feierliche Würgen in den Jahren des Schreckens, da sie nicht einmal vermeinten, Gott einen Dienst zu thun, sondern die Opfer an den Altären der Volksvergötterung schlachteten. […]

Auszüge zitiert nach: Friedrich Julius Stahl, Siebzehn parlamentarische Reden und drei Vorträge. Berlin: Wilhelm Hertz, 1862, S. 132ff. 

Fabio Schwabe

Der Autor

Dieser Beitrag wurde am 13.09.2022 verfasst von Fabio Schwabe, Mettmann. Die aktuelle Version stammt vom 13.09.2022. Fabio Schwabe ist Gymnasiallehrer der Fachrichtung Geschichte und Gründer von Geschichte kompakt

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