In den 1980er Jahren war die Sowjetunion aufgrund ihrer kostenaufwendigen Außenpolitik in finanzielle Not geraten. Der neue sowjetische Regierungschef Michail Gorbatschow sprach sich daher für innenpolitische Reformen aus, die als “Perestroika und Glasnost” in die Geschichte eingingen. Sie leiteten eine historische Wende im Kalten Krieg ein und waren die Voraussetzung für den “Mauerfall” in der DDR. In seinem Buch “Die zweite russische Revolution” erläuterte Gorbatschow, was er genau unter Perestroika verstand:
Perestroika bedeutet Initiative der Massen; Entwicklung der Demokratie auf breiter Basis, sozialistische Selbstverwaltung, Förderung von Initiative und schöpferischer Arbeit, Stärkung von Ordnung und Disziplin, mehr Offenheit, Kritik und Selbstkritik in allen Bereichen unserer Gesellschaft; ein Höchstmaß an Achtung des Individuums und Wahrung seiner persönlichen Würde. Perestroika bedeutet Intensivierung der gesamten sowjetischen Wirtschaft, Wiedereinführung und Entwicklung der Prinzipien des demokratischen Zentralismus bei der Führung der Volkswirtschaft, generelle Einführung ökonomischer Methoden, Verzicht auf ein Management des Kommandierens und administrativer Methoden sowie Ermutigung zu Innovationen und sozialistischem Unternehmungsgeist auf allen Ebenen […].
Sie bedeutet ferner Kopplung der Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution mit der Planwirtschaft. Perestroika bedeutet vorrangige Entwicklung des sozialen Bereichs mit dem Ziel, die Bedürfnisse des sowjetischen Volkes nach guten Lebens- und Arbeitsbedingungen, nach Erholung, Bildung und medizinischer Versorgung immer besser zu befriedigen; ständiges Ringen um kulturellen und geistigen Reichtum, um die Bildung des Individuums und der ganzen Gesellschaft. Perestroika bedeutet Befreiung der Gesellschaft von Verzerrungen der sozialistischen Ethik und konsequente Verwirklichung der Prinzipien sozialistischer Gerechtigkeit. Sie bedeutet ferner Einheit von Wort und Tat, von Rechten und Pflichten. Sie bedeutet Wertschätzung ehrlicher, in guter Qualität ausgeführter Arbeit sowie die Überwindung gleichmacherischer Tendenzen in Entlohnung und Konsum. […] Sie ist die tief greifende Erneuerung aller Bereiche des sowjetischen Lebens, die Schaffung modernster Organisationsformen in der sozialistischen Gesellschaft, die volle Ausschöpfung des humanistischen Charakters unserer gesellschaftlichen Ordnung in all ihren entscheidenden Aspekten – den ökonomischen, sozialen, politischen und moralischen. […]
Wir werden uns weiter auf einen besseren Sozialismus zu bewegen, und nicht von ihm weg. Wir sagen das in aller Aufrichtigkeit und nicht, um unser Volk oder die Welt zu täuschen. Jede Hoffnung, wir würden eine andere, nicht-sozialistische Gesellschaft anstreben und ins andere Lager umschwenken, ist unrealistisch und zwecklos. Die Leute im Westen, die von uns eine Abkehr vom Sozialismus erwarten, werden enttäuscht sein.
Auszüge zitiert nach: M. Gorbatschow, Perestroika, Die zweite russische Revolution, München 1987, S. 40 ff.22